|           Lieber Berndt,seit fast 30 Jahren abwesend im "Reich der  Schatten", bist Du doch - immer mal wieder, und so auch jetzt - anwesend  in meinen Gedanken. Denke ich an Dich, und das meist in Wachphasen der Nacht,  so werde ich - wohl in Anlehnung an Heine - um meinen Schlaf gebracht.
 
 Du fragst: "Wieso?"
 Seit mich die Redaktion des "Forstwald"  ansprach und fragte: "Nicht wahr, Dieter, Du hast den Berndt gekannt, Du  warst häufig in seinem Haus im Forstwald, Du hast viele seiner Tonwerke in  Zusammenarbeit mit seinen Musikfreunden Franzjosef Franzen aus Korschenbroich  und Walter Berlemann aus Essen aufgenommen, Du wirst uns doch für einen Beitrag  über den Berndt helfen?" und ich spontan "Ja" gesagt habe,  seitdem ist meine "Vorruhestands"-Ruhe dahin.
 Über Dich nachzudenken und zu schreiben, ist nämlich  leicht und schwer zugleich: Leicht ist es, aus Christoph Dohrs Werk  "Musikleben und Komponisten in Krefeld" aus dem Jahre 1992 Deine  Biographie zu zitieren, etwa, dass Du "als Sohn des Schuhmachermeisters  Arnold Anton Bosseljon und seiner Frau Anna Christina, geb. Bohr, in Krefeld am  2. August 1893 geboren wurdest" oder, dass Du "vom 31. Oktober 1910  bis zum 16. März 1912 Dich in Aachen aufgehalten hast" oder dass Du  "in zweiter Ehe mit Anne, geb. Röhrig, verheiratet warst, als  Dreißigjähriger Dich abermals beruflich neu orientiert hast, für zwei Jahre  nach Berlin gezogen bist, im Kreis der Expressionisten Conrad Felixmüller und  Carl Sternheim gelebt hast, dem Hindemith-Kreis nahe gestanden, die ungeheuren  Möglichkeiten der Neuen Musik gesehen, wochenweise auch in Wien gewohnt hast"  oder, dass Du "seit Mitte der 50er Jahre in einem kleinen, mit eigenen  Mitteln errichteten Haus im Forstwald, dem bevorzugten Viertel der  "Krefelder Künstler", denen Du Dich zuvor angeschlossen hattest,  gewohnt hast - bis zu Deinem Tod am 23. September 1977".
 
 Schwer dagegen ist es, Dich und Dein Werk angemessen zu  deuten und zu fassen. Du lebtest seit Mitte der 50er Jahre, zusammen mit Deiner  geliebten Frau Anne, in einem kleinen Haus im "Forstwald". Ich musste  heute Nacht einfach über den Begriff "Forstwald" einmal nachdenken.  "Forst" - so habe ich vorsichtshalber im Deutschen Wörterbuch von H.  Paul nachgelesen - ist, im Gegensatz zu Wald "als bewirtschaftetem  Waldgebiet", "der dem Herrscher vorbehaltene Wald". Forst, Wald  oder Forstwald? Wie dem auch sei: Mich erinnern diese Begriffe spontan an das  Vorwort von Heideggers Werk "Holzwege": "Holz" lautet ein  alter Name für Wald. Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im  Unbegangenen aufhören. Sie heißen Holzwege. Jeder verläuft gesondert, aber im  selben Wald. Oft scheint es, als gleiche einer dem anderen. Doch es scheint nur  so. Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf  einem Holzweg zu sein."
 
 Ich nehme an, auch Du und Deine geliebte Anne, ihr beide  wusstet, was es für euch heißt, im Forstwald ein kleines Waldhaus zu bewohnen,  welches ich mehrere Male - meist im Zusammenhang mit Tonaufnahmen - besuchen  durfte.
        Damit komme ich zu dem noch schwierigeren Teil, Dein  Werk, also das, was Du als Tonkünstler geschaffen hast, auch nur einigermaßen  angemessen zu erfassen. Dabei zeigt schon ein Blick in diejenigen 50 Werke, die  Du der Öffentlichkeit zugänglich machtest, die Du - der Tradition entsprechend  - mit Opus-Zahlen versehen hast, und ein Blick in die anderen 30 Werke, die Du  gar nicht erst nummeriert und der GEMA gemeldet hast, wie schwierig es selbst  für einen versierten Musikwissenschaftler wie den schon erwähnten Christoph  Dohr war, die Besonderheiten Deines kompositorischen Schaffens aufzuzeigen. Um  wie viel schwieriger muss es da für mich als "Aufnehmer" einiger  weniger Deiner Kompositionen sein, Dein kompositorisches Schaffen zu  überschauen, geschweige denn Deine eigene Tonsprache zu verstehen. So will ich  mich darauf beschränken, mich an diejenigen Deiner Werke, die ich aufgenommen  habe, zu erinnern und wiederzugeben, welche Wirkung sie auf mich haben.
 | Eines Deiner ersten Werke, die ich kennengelernt habe, habe  ich mit Herrn Franzen am 2. März 1969 in Köln-Troisdorf aufgenommen: Deine  Messe für Chor, Orgel, Bläser: Kyrie, Gloria, Sanctus, Benedictus, Agnus Dei.  Danach folgte in der St. Andreas-Kirche Korschenbroich u.a. im Rahmen eines  Festlichen Konzertes für Bläser, Chor und Orgel am 3. Juni 1973 Deine  "Intrada" aus dem Jahre 1968. Danach kamen mehrere Klavierkonzerte  mit dem Pianisten Walter Berlemann in Krefeld, vor allem das im Rittersaal der  Burg Linn am 26. Oktober 1973. Auf dem Programm standen damals u.a. von Dir die  Fünf Gesänge für Bariton und Klavier nach Texten von Otto Blume, op. 47 und  Deine Sonate Nr. 2, op. 32 für Klavier. Im Rahmen der "Korschenbroicher Konzerte" habe  ich dann - soweit ich mich erinnere - die "Tre Modi" für Orgel, op.  50 aufgezeichnet. Zumindest aber einen Satz daraus: "Lento lamentoso"  , den Franzjosef Franzen Dir zur Ehre im Oktober 1977 gespielt hat, nachdem Du  zuvor im September Dich auf Deine weite Seelenreise begeben hattest.
 Krönender Abschluss meiner Aufnahmetätigkeit mit Werken  von Dir war bisher die komplette digitale Aufzeichnung von "Opus 89"  im Jahre 1989 in Krefeld, welche ich meinem Bekannten Christoph Dohr zu  verdanken habe. "Krönender Abschluss"? Das kann wohl nur zeitlich  gemeint gewesen sein. Denn: Erst vor wenigen Tagen entdeckte ich beim Aufräumen  meiner Bandaufzeichnungen eine Uraufführung Deines Werkes  "Passacaglia", aufgenommen und festgehalten für die Nachwelt in der  Aula des Gymnasiums zu Grevenbroich im Jahre 1976. Das Wort "Passacaglia"  hat mich heute Nacht wieder nachdenklich gemacht, kommt es doch aus dem  Spanischen (pasar una calle) und bedeutet: "eine Straße entlang  gehen" und war ursprünglich ein Volkstanz. Aber: Im Gegensatz zur  "Chaconne" steht die "Passacaglia" meistens in  Moll-Tonarten, also in "weichen" oder gar "traurigen"  Tonarten.
 Lieber Berndt, ich frage mich oft, ob dieses Wort  "Passacaglia" vielleicht ein Schlüsselbegriff für Dein  kompositorisches Schaffen ist. Denn: Einerseits steht es vom  Volkstanz-Charakter her für Fröhlichkeit, welche ich bei den langen und  gemütlichen Abenden in Deinem Forstwaldhaus immer wieder erleben durfte,  andererseits aber auch für eine tiefe, wenn auch mehr verborgene Traurigkeit,  die ich immer wieder beim Anhören Deiner Werke zu verspüren glaube.Ähnlich wie mit der "Passacaglia" geht es mir,  wenn ich Dein "Lento lamentoso" anhöre - das Stück also, dessen  Charakter das zugleich "lento", "langsam" oder  "sanft", und "lamentoso", "schmerzlich-leidenschaftlich"  ist. Vielleicht bietet die fast heraklitisch zu nennende Gegensätzlichkeit  zwischen Deiner Liebenswürdigkeit im Umgang mit den Menschen und der mitunter  regelrecht abweisenden Schroffheit Deiner Musik den Schlüssel zum Verständnis  Deiner musikalischen Sprache, spiegelt diese Gegensätzlichkeit doch exakt die  Summe Deiner Lebenserfahrung wider: das Leid, dass Du in zwei Weltkriegen als  Soldat und während Deiner Kriegsgefangenschaft ansehen und wohl auch selber  erdulden musstest, über das Du nie sprechen konntest, den Schmerz über das  Scheitern der ersten Ehe zu Beginn der zwanziger Jahre, die Bedrängnis in der  Nazizeit, als Du Dich weigertest, der Partei beizutreten, die Trauer über die  Zerstörung Deiner Heimatstadt mitsamt dem geliebten Elternhaus und dem Theater,  an dem Du bis zu dem verheerenden Bombenangriff als Chordirektor wirktest.
 Auch die materielle Unsicherheit, die ständige Suche nach  einem sicheren Arbeitsplatz, welche Deine gesamte Tätigkeit geprägt hat,  schlagen sich in der Schwere Deiner Musik und in Deiner Aggressivität wider;  das Glück aber, das Du mit Deiner Anne im Kreise der Freunde von der  Künstlerkolonie während gut dreißig Jahren im Forstwald erleben durftest, das  fand seinen Widerhall in der Offenheit, der Heiterkeit und besonders der großen  Hilfsbereitschaft, für die Du von denen, die Dich kannten, so gerühmt wirst.  Mit diesen Gedanken möchte ich mich nun für heute von Dir verabschieden und  Dich wieder in Deine wohl verdiente Ruhe im Reich der Schatten entlassen...
 Dein „Aufnehmer“ Hans-Dieter Peltzer  Hans-Dieter Peltzer, im Hauptberuf Studiendirektor für die Fächer Latein und Philosophie  am Gymnasium der Stadt Korschenbroich, war in den siebziger Jahren eng mit  Bosseljon befreundet und hat in seiner nebenberuflichen Tätigkeit als  Tontechniker eine Reihe von Konzerten Bosseljons aufgenommen und archiviert. | Titel in der Edition Dohr Texte im Verlag Dohr Literatur zu Bernhard Bosseljon im Verlag Dohr |